Musik

Online-Buchauszug: Klaus Modick über Leonard Cohen

"Radikal subjektive Liebeserklärungen an die Musik" verspricht die KiWi Musikbibliothek. Lest hier in einen exklusiven Online-Auszug vom neuen Band 5: Klaus Modick über Leonard Cohen.

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In Kooperation mit dem KiWi Verlag präsentieren wir Euch an dieser Stelle einen exklusiven Buchauszug aus Klaus Modicks wunderbarer Liebeserklärung an Leonard Cohen. Wenn Euch die Leseprobe gefällt, klickt unbedingt auch in die Playlist zum Buch auf kiwi-verlag.de/playlists und ruft Euren lokalen Buchhändler an oder schreibt ihm eine Mail und bestellt Euch die ganze Geschichte nach Haus!

Leseprobe: Klaus Modrick über Leonard Cohen

Wenn er zu Bett ging und das Licht gelöscht hatte, schaltete Lukas das Radio ein. Das Magische Auge leuchtete dann durch die Dunkelheit, legte einen samtartigen Schimmer auf die Dinge und verwandelte das Zimmer in einen grün fluoreszierenden Kokon. Das wuchtige Röhrengerät Nordmende Fidelio mit seiner Stoffbespannung vor dem Lautsprecher war eigentlich schon damals eine technische Antiquität, hatte aber einen verblüffend satten Klang, und die Wahltasten für MW, LW, KW und UKW aus weißem Bakelit sahen aus wie die verkürzte Tastatur eines Klaviers. Und keine noch so moderne Hi-Fi-Anlage zeigte die Signalstärke als Magisches Auge, dessen grüner Schein wie ein undefinierbares Glücksversprechen schimmerte und mit der Musik verschmolz, um derentwillen Lukas dem Radio lauschte, bis er einschlief und die Musik in seine Träume verwob.

Diese Musik wurde so gut wie nie von deutschen Sendern gespielt, aber auf der Skala des Radios fanden sich neben allerlei exotischen Orten wie Monte Carlo, Bruxelles, Stavanger, Beromünster, Vatikan und Kalundborg auch Stationen, die das, was Lukas’ Eltern als Negermusik verabscheuten, zuverlässig lieferten: AFN und BFBS. Amerikanische und britische Soldaten hatten zweifellos einen besseren Musikgeschmack als Lukas’ Eltern.

Auch in jener Novembernacht lag er längst im Bett, hatte Mighty Quinn gehört und Mrs. Robinson, The Dock Of The Bay und Lazy Sunday, musste am nächsten Morgen aber früh und halbwegs fit aufstehen, weil eine Mathearbeit drohte, und wollte bereits das Radio abstellen, als der Discjockey verkündete, morgen werde die neue Langspielplatte der Beatles auf den Markt kommen. Weltweit. Man werde deshalb in einer Stunde ab Mitternacht das komplette Doppelalbum ohne Pause und ohne jeden Zwischenkommentar abspielen. Eine neue Beatles-Platte erwartete Lukas stets wie eine Offenbarung, ein allerneustes Testament. Und diesmal gar ein Doppelalbum! Was war dagegen eine Mathematikarbeit? Im grünen Zauberschein lag er in so fiebriger Erwartung wie früher als Kind an Heiligabend in der letzten Stunde vor der Bescherung.

Endlich kam die Musik, einsetzend mit Flugzeuglärm, den Lukas erst für eine Frequenzschwäche des Senders hielt, ein Rauschen aus geheimnisvoller Ferne, das ihn in seinen Sog zog und mitnahm auf eine Reise durchs Wunderland der Klänge, Töne, Stimmen, die ihm galten, in denen ausgesprochen war, was er nie selbst hätte formulieren können. Ja, das war seine Musik, wurde sogleich zu einem Teil seiner selbst, gehörte zu seinem Leben wie Essen und Trinken, wie Haut und Haare, wie Atem und Schlaf.

Das war 1968, das Jahr, das zum Mythos werden sollte. Die Studenten revoltierten in Deutschland und Frankreich, Martin Luther King und Robert Kennedy fielen Attentaten zum Opfer, der Vietnamkrieg tobte, Nixon war zum Präsidenten gewählt worden, die Sowjetunion in die Tschechoslowakei einmarschiert – und die Beatles flogen Back In The USSR und sangen von Revolution. Die Rolling Stones bekundeten Sympathy For The Devil und auch für einen Street Fighting Man.

Bob Dylan protestierte schon lange mit Masters Of War, Donovan mit dem Universal Soldier. Die Atombombe drohte am Eve Of Destruction, und überhaupt musste jedem zurechnungsfähigen oder jedenfalls musikalischen Menschen klar sein: The Times They Are A Changin’. Ein berauschendes Lebensgefühl des Aus- und Aufbruchs, gut gelaunter Widerspruchsgeist und muntere Aufmüpfigkeit durchtränkten diese Musik so gründlich wie Tinte das Löschpapier in Lukas’ Schulheften.

Wenn er Jahre später die Beatles hörte, verstand Lukas, wie sich die kreative Eruption dieser Zeit, die Befreiung vom Muff der Nachkriegsprüderie in der sexuellen Revolution, aber auch die psychische Revolution der Halluzinogene, die Aggressivität der Straßenkämpfe, aber auch die sanfte Hippieutopie von Love and Peace, in dieser Musik verdichtet hatte wie in kaum einem anderen kulturellen Phänomen. In jener Nacht des Weißen Albums am Röhrenradio Fidelio rührte sie an eine jungfräuliche Empfindung: Diese Musik war seine erste Liebe.
Die Mathematikarbeit geriet zum Desaster.

Lukas war 18 und also endlich volljährig, aber immer noch kein richtiger Mann. Die Fantasien des Harems seiner rechten Hand verströmten fruchtlos in Tempotaschentüchern, und das, was man Unschuld nannte, schnürte ihn ein wie eine Zwangsjacke. Wenn in der Diskothek und bei Tanzabenden im Jugendheim der Discjockey statt My Generation oder Satisfaction langsamere Takte anschlug, Michelle, As Tears Go By oder gar Je t’aime … moi non plus, und dabei das Flackerlicht gedimmt wurde, begann die Schwofrunde. Und wenn dann die Schöne, um die Lukas eben noch mit wildem Gliederzucken geworben hatte, in seinen Armen auf der Tanzfläche blieb, begann ein Pressen und Schieben, Drücken und Tasten, das, je nach Gegenseitigkeitsgrad, in zaghafte Küsse mündete, um auf durchgesessenen Sofas, im frühlingsmilden Schlosspark oder in zugigen, dunklen Hauseingängen in Knutscherei und Fummelei zu enden, ohne ans ersehnte Ziel gekommen zu sein. Es gab ein neues deutsches Wort für diesen unbefriedigenden Zustand: frustriert. Übrigens hatte man keine Freundinnen, von Beziehungen zu schweigen, sondern man »ging zusammen«, um nach einigen Tagen, manchmal auch Wochen, nicht mehr zusammen zu gehen. Verhältnisse, die Monatsfrist oder mehr erreichten, galten als »in festen Händen« – Abwerbung zwecklos.

Mit Uschi war er gegangen und mit Ulla, mit Annette und mit Anna, mit Hilke und mit Hilde. Aber es war immer noch nicht passiert, und ihn drückte die Befürchtung, das letzte männliche Mitglied seiner Altersgruppe zu sein, dem immer noch der unsichtbare, aber doch auch peinliche und grausame Makel des Noch-nie anhaftete. Manche seiner Freunde protzten mit saftigen Anekdoten über die Freuden vollständigen Eindringens in die Mannbarkeit, und andere schwiegen mit einem seligen Lächeln, das ebenso still wie vielsagend war. Die Antibabypille schien in aller Munde zu sein, nicht jedoch in den Mündern der Mädchen, mit denen er ging, denen er als Lockmittel schmachtende Liebesgedichte und simple Songs schrieb. Doch solche manuellen und mündlichen Manipulationen konnten nur Vorahnungen der Offenbarung sein, die da doch endlich kommen musste.

Eingesponnen und durchdrungen von der Musik trieb Lukas im grünen Schimmer seiner Radionächte durch wogige Regionen des Halbschlafs. Dabei kam es ihm manchmal so vor, als sei er selbst die Musik oder ein Teil dessen, wovon diese Musik erzählte: der Liebeslieder singende Hurdy Gurdy Man, Eleanor Rigby, die Reis vom Fußboden aufsammelt, ein Matrose auf der Proud Mary, der es mit einer Honky Tonk Woman treibt, der rätselhafte Eskimo Mighty Quinn oder der verrückte Old Flat Top in Walrossgummistiefeln. Solche Auflösungen der Grenzen zwischen Lukas und der Musik hielten sich auch noch für eine Weile, wenn er zwischendurch erwachte und es genoss, dass die Songs wie wahr gewordene Träume in ihm lebten und er in ihnen.

Und auf diese Weise gelangte eines Abends auch eine geheimnisvolle Suzanne in sein Bett. Sie kam im Gewand einer einfachen, ebenso eingängigen wie eindringlichen Melodie, begleitet von einer akustischen Gitarre, vorgetragen von einer Baritonstimme, sonor, hypnotisch, sinnlich, als käme sie aus einer Tiefe, die Lukas unbekannt war, in die er aber umso sehnsüchtiger hineinhorchte, während Frauenstimmen durch den Hintergrund schwebten und Streichinstrumente sanfte Muster webten. Obwohl sein Englisch passabel war, verstand Lukas vom Text nur Bruchstücke. Ein übers Wasser gehender Jesus kommt darin vor, Seeleute, ein einsamer hölzerner Turm, eine Frau, die Suzanne heißt, Lumpen und Federn trägt und jemanden auf ihre Wellenlänge bringt, und Körper im Refrain, sein perfekter Körper, dein perfekter Körper, ihr perfekter Körper, und ein Fluss, der davon redet, immer schon der Liebhaber dieser Frau gewesen zu sein, und also ging es um Sex; oder vielleicht auch nicht, weil nicht Körper zu Körper findet, sondern der perfekte Körper durch etwas anderes berührt wird: »For you’ve touched her perfect body with your mind«. Aber was bedeutete hier »mind«? Verstand? Geist? Fantasie? Das Ganze ergab keinen rechten Sinn und hatte dennoch eine überzeugende, geradezu überwältigende innere Logik, war voller sehnsüchtiger Sinnlichkeit, aber fernab allen Kitsches. Es war auch keiner der üblichen schlichten Lagerfeuerfolksongs und schon gar kein Protestsong, war nicht Pop noch Rock, sondern – ja, was? Ein gesungenes Gedicht? Und der, der es sang, wusste, wovon er sang. Es klang durch und durch erwachsen.

In seinem somnambulen Dämmer war die Anmoderation ungehört über Lukas hinweggegangen, sodass er den Titel des Songs und den Namen des Sängers nicht wusste. Nun lag er wacher als zuvor. Um die Wirkung des Songs nicht durch ein anderes Lied zu zerstören, schaltete er das Radio aus. Das Magische Auge wandelte sich von dunkelflaschengrün zu türkis und versank dann in der Dunkelheit. Indem er versuchte, in der Erinnerung Melodie und Textfragmente noch einmal zusammenzufügen, wurden sie immer unverständlicher, fremder, als wären sie aus einer anderen Welt gekommen. Das Lied löste sich langsam von Lukas ab, Suzanne entließ ihn aus ihren Armen und verdunstete in einem traumlosen Schlaf.

Harry kannte noch viel mehr Songs als Lukas, aber als der ihm anderntags vorsummte, was er von der Melodie zu erinnern glaubte, schüttelte Harry nur den Kopf, und auch die Texttrümmer sagten ihm nichts: »Nie gehört.«

Harry, der eigentlich Harald hieß, war Lukas’ bester Freund. Sie sangen und spielten Gitarre, traten als Luke & Harry bei Schulfesten auf, in Jugendklubs, manchmal auch in Diskotheken während der Tanz- pausen. Harry war musikalischer als Lukas, der Probleme hatte, eine Zweitstimme zu halten. Harry spielte auch besser Gitarre, und es fiel ihm leicht, von den Schallplatten die Harmonien und Akkorde der Songs abzuhören, die sie in ihr Repertoire aufnahmen. Dafür verstand Lukas die englischen Texte besser und konnte sie sich besser merken. Ein paar Songs hatten sie sogar schon gemeinsam geschrieben, Musik Harry, Text Lukas, und somit bildeten sie ein Duo, das sich bestens ergänzte. Das Lied über die Lumpen und Federn tragende Suzanne hätte natürlich wunderbar in ihr Repertoire gepasst, da war Lukas sich sicher, aber ganz ohne Kenntnis von Musik und Text ging es nuneinmal nicht.

»Vielleicht hast du den Song ja nur geträumt«, meinte Harry und klimperte eine Tonfolge. »Hier, hör mal, fällt dir dazu ein Text ein? A, H-Moll, E 7, A, ganz simpel erst mal, aber dann diese Bridge –«

Aber Lukas war sich sicher, den Song nicht geträumt zu haben. Ganz sicher.
Einen Monat später traten sie beim Schulfest des Martin-Luther-Gymnasiums auf. Der Tanzabend für die Oberstufe fand in der mit Luftschlangen, Ballons und Papiergirlanden geschmückten Turnhalle statt. Für die Musik sorgte eine Beatband mit dem erschreckend einfallslosen Namen The Beatboys, was jedoch einigermaßen revolutionär war, weil niemand zu hoffen gewagt hätte, dass der Schuldirektor dergleichen Hottentottenkrawall an seinem Institut dulden würde. Aber offenbar änderten sich die Zeiten tatsächlich wie von Bob Dylan angekündigt. Gegen Harrys und Lukas’ Auftritt hatte sowieso niemand etwas, weil sie als Folkloreduo angekündigt wurden, und bei Folklore dachten dann manche Erwachsene wohl noch in Dimensionen von Im Frühtau zu Berge und Wildgänse rauschen durch die Nacht. Harry und Lukas fanden die Bezeichnung Folkloreduo zwar bescheuert, aber wenn sie damit einfacher zu Gigs kamen, war es ihnen auch egal. Musik war Musik. An diesem Abend sollten sie drei Mal für je zehn Minuten auftreten, wenn die Beatboys Pause machten.

Um die Stimmung anzuheizen, legte die Band mit den üblichen Gassenhauern los – Peter Gunn, Hold Tight, Baby Come Back, Twist And Shout. Die neuesten Hits waren das zwar nicht, weil die erst noch eingeübt werden mussten, aber zu den alten Krachern füllte sich sofort die Tanzfläche, als würde die Musik eine Mauer einreißen, durch die sich nun etwas Bahn brach, was lange zurückgehalten, unterdrückt und kontrolliert worden war.

An die Tür des Geräteraums hatte jemand ein handgemaltes Schild mit der Aufschrift Künstlergarderobe gehängt. Um alle Welt, insbesondere die Mädchenwelt, unmissverständlich darauf aufmerksam zu machen, dass Harry und Lukas zu den Künstlern gehörten, lehnten sie links und rechts am Türrahmen, und zwar so, dass das Schild zwischen ihnen deutlich zu erkennen war, und überblickten mit verschränkten…


© Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, 2020 Alle Rechte vorbehalten.

Klaus Modick: Leonard Cohen
ISBN: 978-3-462-05380-7
144 Seiten, gebundene Ausgabe
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