Musik
Interview
Matthew Healy (The 1975) im Interview zum neuen Album
Am 22. Mai erschien das neue Album von The 1975. 22 Songs, über 70 Minuten Spielzeit, ein Stilbreite, die von Brian-Eno-Ambient, über Screamo, Dubstep bis hin zu Duran-Duran-Pop reicht. Applause-Redakteur Daniel Koch sprach mit dem charismatischen Frontmann, Sänger, Songwriter und Produzent Matt Healy.
Matthew Healy ist ein spannender Gesprächspartner. Er hasst es, klassische 15-Minuten-Interviews zu geben, um die Alben seiner Band zu promoten, tauscht aber gerne Ideen und Meinungen aus. Vor allem jetzt, in Lockdown-Zeiten, die er mit seinem Bandkumpel George Daniel in einem Haus mit Studio in der britischen Countryside verbringt. Also macht er das, was er auch mit der Karriere seiner Band stets machte: Er stellt eigene Regeln auf, nimmt sich fast eine Stunde Zeit für das Interview und sorgt dann immer wieder dafür, dass es eben ein richtiges Gespräch wird und kein Frage-Antwort-Gefeuer.
Zeit nehmen muss man sich auch für das neue Album der Band: „Notes On A Conditional Form“ ist ein ziemlicher Brocken. 22 Songs, über 70 Minuten Spielzeit und ein wilder Ritt durch viele Stile. Trotzdem klingt das alles nicht wie „Just another Playlist“, was ihm Kritiker immer wieder gerne vorwerfen. Denn The 1975 verstehen es, egal in welcher Stilschublade sie auch wühlen, ein und dieselbe Band zu bleiben: Vier Freunde aus der Nähe von Manchester, die schon seit Schulzeiten miteinander musizieren und mit den Jahren immer besser – und vor allem immer neugieriger wurden.
So wundert es auch nicht, dass Matthew – oder Matt, oder Matty – im Kopf schon längst bei neuen Dingen angekommen ist. Bei seinem Podcast zum Beispiel, oder bei seinem Wunsch, mal die Musik für ein Videogame zu machen.
Mehr punk als Punk? Matthew Healy von The 1975 im Interview
Matt Healy: Hey, wie geht es dir? Wo bist du gerade? Wie sieht es bei dir aus?
Äh. Ich sitze in Berlin. An meinem Schreibtisch. Vor dem Fenster. Schaue auf einen Kanal, an dem so viele Leute entlanglaufen, dass man fast glauben könnte, die Welt da draußen sei wieder normal. Aber eigentlich hätte ich so einsteigen wollen: Wie ist es bei dir? Wo bist du gerade?
Matt Healy: Ich krieg wenig davon mit, wie es in London oder Manchester ist. Ich habe mich mit Georgie in ein Haus auf dem Land zurückgezogen. Mitten in der Stadt zu sein, würde mich glaube ich gerade überfordern. So ist die Situation nicht so anders wie in diversen Arbeitsphasen im Studio. Wobei natürlich der Rest der Band fehlt.
Lass uns zuerst über das neue Album „Notes On A Conditional Form“ sprechen. Mehrfach verschoben, jetzt kommt es endlich raus – und es ist ein ziemliches Monster: 22 Songs, über 70 Minuten Spielzeit, ein gutes Dutzend verschiedener Genres, Themen, die vom gerade anklopfendem Ende der Welt, über die Nachwehen deiner Sucht bis zu recht süßen Liebeserklärungen von dir an die eigene Band reichen. Wie fühlt es sich an, das Ding nun draußen zu haben?
Matt Healy: Ganz ehrlich? In der Hinsicht fühl ich nicht viel. Die Veröffentlichung war längst überfällig. Es hat eben alles etwas länger gedauert: Planungen, der letzte Schliff, der ganze Kram. Für mich fühlt es sich an, als wäre es schon eine ganze Weile draußen. Ich bin nicht gut darin, hier zu sitzen, das Album zu „promoten“, wie es immer so schön heißt, und allen vorzuspielen, ich stecke noch voll drin und könnte völlig reflektiert jeden meiner Songs analysieren. Das konnte ich noch nie. Wir sind als Band immer schon ein paar Schritte weiter, arbeiten an der nächsten Sache. Seit der Pandemie ist mir das noch klarer geworden, weil man sich jetzt mit ganz anderen, viel größeren Fragen beschäftigt. Was wissen wir wirklich darüber, wie die Welt funktioniert? Was müssen wir anders machen in dieser neuen Welt, die sich so plötzlich aufgetan hat? Das ist viel interessanter als die Frage, was ich von meinem Album halte. Also sagen wir so: Ich bin sehr stolz darauf, ich freue mich, dass es nun alle hören können und es kommt mir so vor, als sei dieser besondere Kontext recht passend, weil das Album einige Fragen anschneidet, die wir uns nun stellen müssen.
Das wird vor allem am Anfang sehr deutlich: „Notes On An Conditional Form“ beginnt wie alle eure Platten mit einem Stück namens „The 1975“. Diesmal gibt es dort zum ersten Mal einen Gast zu hören, und zwar Greta Thunberg. Die ersten Zeilen ihres Spoken-Word-Parts sind: „We are right now in the beginning of a climate and ecological crisis, and we need to call it what it is: an emergency. We must acknowledge that we do not have the situation under control, and that we don’t have all the solutions yet; unless those solutions mean that we simply stop doing certain things.“ Es ist jetzt nicht exakt die Krise, die Greta gemeint hat, aber es fühlt sich schon ein wenig prophetisch an, oder?
Matt Healy: Schon. Aber hey, wir dürfen auch nicht vergessen: Es ist nur ein Album! Ich mag es nicht, wenn nun jegliche Kunst, die vor all dem entstand auf Corona-Kompatibilität abgeklopft wird. „Oh, bei ‚Frail State Of Mind‘ singt er ‚Go outside? Seems unlikely.‘, wie prophetisch!“ Nein, verdammt. Darin geht es um einen Zustand, in dem man nicht nach draußen gehen und Leute sehen WILL. Das ist faktisch und psychologisch was anderes. Vielleicht ist es aber so, dass wir manchmal die richtigen Fragen stellen in diesen Songs. Mir ging es darum, für mich zu klären, ob wir unsere Art zu leben aufrechterhalten können. Auf einem persönlichen Level, aber auch in einem größeren, gesellschaftlichen Kontext betrachtet. Mir kommt es so vor, als sei uns als Gesellschaft diese Frage jetzt schneller beantwortet worden, als wir sie stellen konnten. Aber dieses laute „Nein!“ bietet ja auch Chancen. Vielleicht entwickelt sich am Ende ja auch etwas nachhaltig Positives aus diesen Erfahrungen.
Ich sehe das ähnlich. Nicht, dass ich die Situation verklären will, aber ich zwinge mich regelmäßig, nachzudenken, ob sich auch etwas verbessert hat. Allein, um die negativen Gedanken auszubremsen. Und da fällt mir auf, dass ich mit vielen Freunden zum Teil sehr deepe Gespräche hatte, selbst mit denen, die eigentlich eher die perfekte Begleitung für einen guten Sauf- und Party-Abend sind. Das bringt mich zum nächsten Thema: Du hast einen eigenen Podcast gestartet, den ich sehr gerne gehört habe. Darin redest du mit deinen Heldinnen und Helden oder mit befreundeten Künstlerinnen und Künstlern. Du hast sogar Stevie Nicks und Brian Eno bekommen. Das sind ebenfalls sehr schöne, deepe Unterhaltungen. Entstand diese Idee aus dem Impuls nach guter Gesellschaft und guten Gesprächen?
Matt Healy: Schön, dass dir der Podcast gefällt. Er liegt mir sehr am Herzen, deshalb: Danke. Ich wollte so was schon immer machen und die Leute von The Face, die ihn produziert haben, waren eine große Hilfe. Ich habe ihnen quasi eine Wunschliste geschickt – und alle davon haben zugesagt. Sogar Stevie Nicks! Die Idee hatte ich allerdings schon vor der Quarantäne-Zeit. Ich bin gerade an einem Punkt, an dem mich jede kurze Ausdrucksform nervt. Oder besser: stresst. Das sieht man vielleicht auch an meinem Social-Media-Kanälen: Im letzten Jahr habe ich da eigentlich nur Informationen oder Witze rausgehauen. Auf der anderen Seite mag ich lange Konversationen. Deshalb war es jetzt ein guter Zeitpunkt. Niemand kann touren, deshalb sind die Chancen gut, diese Menschen auch tatsächlich zuhause zu erwischen. Gleichzeitig hilft es mir gerade jetzt, wo ein neues Album draußen ist, gute, lange Gespräche über Kunst, Musik und das Leben zu führen – anstatt mich in einem 15-Minuten-Interview fragen zu lassen: „Wie steht’s mit der Heroin-Sucht? Klappt’s mit dem Clean-Bleiben?“ Das ist so beschissen langweilig. Wie’s darum steht, hört man in meinen Liedern …
…zum Beispiel in „The Birthday Party“…
Matt Healy: Genau. Diese Gespräche für den Podcast waren so wichtig für mich, weil sie nicht die Aufgabe haben, meine Kunst zu bewerben oder zu erklären, sondern weil ich mit Menschen, deren Kunst mir viel bedeutet, Ideen und Meinungen austauschen und diskutieren kann. Das versuche ich auch bei meinen Interviews durchzusetzen. Wenn ich welche gebe, dann möchte ich auch die Zeit haben für ein Gespräch, das über ein neues Album hinaus reichen kann.
Eure Fans sind sehr engagiert. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr gebt ihnen mit euren Liedern ein Thema vor und viele von ihnen graben sich dann regelrecht rein. „Jesus Christ 2005 God Bless America“ ist da ein gutes Beispiel. In dem Lied, auf dem Phoebe Bridgers als Gastsängerin zu hören ist, geht es um Homophobie und Religion. Wenn man jetzt zum Beispiel bei Genius.com den Songtext liest, findet man eine Grafik, die zeigt, wie stark Homophobie in den USA in den letzten Jahren zugenommen hat. Ich finde solche Verbindungen wundervoll. Hast du noch im Blick, was deine Lieder auslösen oder anschieben?
Matt Healy: Das ist nichts, was uns auszeichnet. Gute Kunst schafft es, solche Impulse zu setzen. Deshalb ist unser Anspruch immer, alles zu geben und das Beste zu produzieren, was wir gerade hinbekommen. Mir geht es dabei vor allem um Schönheit. Ich glaube, viel unterschätzen die Bedeutung von Schönheit in der Musik. Wenn Menschen etwas schön finden, dann wollen sie es kopieren. Oder etwas Neues draus machen. Sie wollen es behalten. Es ficken. Es malen. Sie wollen es erhalten. Deshalb ist Schönheit für mich inzwischen die schärfste Waffe. Wer uns kennt weiß, dass wir mal sehr harte Musik gemacht haben, aber mit Aggression kann man seine Ideen eben nur bis zu einem gewissen Punkt vermitteln.
Was du auf dem Album mit dem zweiten Song „People“ auch machst …
Matt Healy: Ja. Bei „People“ ist die körperliche und stilistische Aggression im Einklang mit den aggressiven Ideen, die ich in dem Lied hinausbrülle. Das hat schon eine ziemliche Wucht, aber eben eine sehr lineare, die nur in eine Richtung zielt. Du hast ja von „Jesus Christ 2005 God Bless America“ geredet, eine sehr wohlklingende Ballade, ein Liebeslied, in dem Phoebe ganz wundervoll klingt. Ich liebe das: Schöne Musik, die von Dingen singt, die eben nicht schön sind. Die dich herausfordert, provoziert, dich auf Gedanken bringt, die du vielleicht vermeiden wolltest. Deshalb mache ich Musik, die auf verschiedene Weise schön klingt. Das kann dann mal nach sanftem Pop klingen, oder Dubstep-Bässe haben oder eine Schmachtballade sein. Und deshalb sind The 1975 eine der wenigen Bands, die man wirklich eine Alternative Band nennen kann.
Oder eine Punk-Band. Wenn man sich einige Kritiken so durchliest, hat man das Gefühl, es gibt viele Kritiker die euch ziemlich hassen. Gerade weil ihr eben nicht stilistisch greifbar seid, ein paar sehr erfolgreiche, äußerlich smoothe Hits habt, du aber gerne deine Meinungen ungefiltert raushaust und damit für Wirbel sorgst. Das hat für mich mehr Punk-Spirit, als vieles, was heute noch unter dem Banner unterwegs ist. Ebenso wie Grime mehr Punk ist als Punk heutzutage …
Matt Healy: Da bin ich voll bei dir. Das sage ich immer wieder. Die Leute ziehen uns immer auf, weil wir diesen Punk- und Emo-Background haben aber nie Bock hatten, uns auf dieses eine Genre zu beschränken. Wir haben eigentlich schon immer gemacht, worauf wir Lust hatten. Als unser Debütalbum kam, wollte jeder, dass es klingt, wie unsere ersten EPs, die uns groß gemacht haben, aber auch da waren wir schon ein paar Schritte weiter. Dabei ist die Idee von Rebellion durch harte Musik heutzutage eh ein Witz. Wir haben den Tod von harter Musik doch alle mitbekommen – und das war verdammt noch mal nicht schön anzusehen. Sie wurde wie alles Teil der Mainstream-Kultur und eine Art kommerzialisierte Rebellion, die uns fucking Limp Bizkit einbrachte. Ich meine: Ich liebe es Krach zu machen. Aber das war nicht, worum es damals bei Punk ging. Lautstärke und Wut waren wichtig, weil sie das Gegenteil von dem waren, was in der Musik der Zeit passierte. Als die Rave-Kultur groß wurde, war Rave für mich genauso punk wie Punk. Es waren nicht die drei Akkorde und die Lederjacke, die Punk einst ausgemacht haben. Ich liebe es, von den alten Helden zu lernen und ihnen Tribut zu zollen, aber wenn du heute noch wie ein Punk von damals rumläufst, dann ist das eher Cosplay als alles andere. Fair enough, kann man machen, aber dann bist du näher an den Kids, die sich wie ihre Videogame- oder Comic-Helden anziehen, als am Punkspirit von damals. Da ging es nämlich darum, subversiv zu sein – und vielleicht klappt das eben besser, wenn man immer wieder die Erwartungen untergräbt.
Ich finde es auch in meinem Job ermüdend, wie sehr sich einige Menschen noch als Kritiker gerieren und Musik in großen Teilen danach bewerten, wie sehr sie sich innerhalb der Spielregeln eines bestimmten Genres verhalten. Ich habe nicht das Gefühl, dass junge Menschen heute noch auf diese Weise Musik hören und ihre Sozialisation an einer bestimmten Schublade festmachen. So funktioniert das Game heute einfach nicht mehr. Oder wie siehst du das?
Matt Healy: Mich langweilt das so dermaßen. Diese Typen müssen so langsam mal neue Wege finden, über Musik zu reden, wie es die Kids bereits tun. Die Zeiten haben sich geändert. Früher war man Teil einer recht fixen Subkultur, hatte die gleichen Treffpunkte und Quellen, um seinen Musikgeschmack zu bilden. Das war ne schöne Sache, schön übersichtlich und ich verstehe die Nostalgie, die viele dabei empfinden, die so aufgewachsen sind. Heute fühlt es sich manchmal an, als sei jeder seine eigene Subkultur. Dabei mag auch was verloren gehen, aber es wird auch etwas gewonnen. Hätte man es damals für eine Dystopie gehalten, wenn dir jemand gesagt hätte: „In zwanzig Jahren musst du nicht mehr zu einem Plattenladen auf dem anderen Kontinent reisen, um einen Song zu bekommen?“ Ich glaube nicht. Ich treffe heute so viele junge Musikerinnen und Musiker, deren Referenzen und Einflüsse völlig crazy sind – und vielleicht mag das etwas willkürlich wirken, aber andererseits ist das doch total spannend.
Wie geht es bei dir jetzt weiter? Man hört, du arbeitest mit George bereits an neuen Sachen und hast dich durch altes Material gehört aus der Zeit, als ihr euch noch Drive Like I Do genannt habt. Und ich fand es sehr spannend, dass du kürzlich auf Twitter verkündet hast, du würdest gerne Musik für Videogames machen. Instrumentalstücke waren ja schon immer sehr wichtig auf euren Alben, das scheint mir gut zu passen. Ist in der Richtung was geplant?
Matt Healy: Ist es tatsächlich. Um ehrlich zu sein, ist das die Richtung, die mich gerade mehr interessiert als ein klassisches Album. Das wird sich auch wieder ändern, aber gerade liebe ich es, Musik zu machen, die in diesem Kontext funktionieren und ein völlig anderes Narrativ bedienen muss. Videospiele sind da ein sehr spannendes Feld, weil du mit deinem Gameplay eben die Geschichte beeinflussen kannst und bei guten Spielen die Musik oft hilft, dich in diese Welt zu ziehen. Kennst du zum Beispiel die Spiele von Playdead? „Limbo“ und „Inside“?
Oh ja. Das Ende von „Inside“ ist meiner Meinung nach mit das Poetischste was ich jemals in einem Spiel gesehen habe …
Matt Healy: Das würde ich so unterschreiben. Ich liebe diese Spiele. Die Atmosphäre. Das Storytelling. Die Art, wie hier eine Welt erschaffen wird. Das ist eine Kunstform, die mir gerade viel gibt und die sehr viele junge Menschen erreicht, zu denen man vielleicht sonst mit seiner Musik nicht finden würde.
Eure Konzerte sind ja wie viele andere auch verschoben werden. Spürst du schon Vorfreude, wenn du daran denkst?
Matt Healy: Wer nicht? Egal ob man auf oder vor der Bühne steht, ich glaube, jeder, der Livemusik mag, wird wirklich, wirklich, wirklich heiß darauf sein, endlich wieder einen Gig zu sehen. Aber ganz ehrlich: Vorher gibt es Dinge, die geklärt und überstanden werden müssen. Wenn das geschafft ist, dann springt auch die Vorfreude an.
Interview: Daniel Koch
The 1975: Neue Deutschland-Termine 2021
- 20. Februar 2021 | Berlin – UFO im Velodrom
- 22. Februar 2021 | Düsseldorf – Mitsubishi Electric Halle
- 23. Februar 2021 | Frankfurt – Jahrhunderthalle
- 24. Februar 2021 | München – Zenith
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