Musik

Aus der Rolle gefallen: Alles neu bei Poppy 2020

Ihre Karriere begann im Nebelfeld zwischen Musik und Kunst, ihre Inszenierung als mal naive, mal verquer-bissige Cyborg-Lolita verwirrte ebenso wie sie begeisterte. Mit ihrem dritten Studioalbum „I Disagree“, das Poppy im März live vorstellen wird, wagt die in L.A. lebende Künstlerin nun die eigene Menschwerdung. Ihr Soundtrack dazu? Ein Bastard aus Metal, J-Pop und zuckersüßen Pop-Hooklines, findet Michel Schütz.

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Da sitzen sie vor ihren goldenen Schallplatten. Ein Haufen alter Männer mit roten Koksgesichtern und grauen Frisuren, an denen nur noch die Geheimratsecken wachsen. Wir sind in einem dieser seelenlosen Konferenzräume, wie man sie oft in den Büros der großen Plattenfirmen findet. Die Männer wirken gelangweilt, großkotzig, überlegen. Am Ende des Tisches: Ein blondes Wesen, wie eine Kreuzung aus Heidi und Geisha. Poppy. Sie trägt graues Oberteil mit roten Latex-Ärmeln und singt: „I disagree / With the way you continue to pressure me /I disagree / With the way you are failing to pleasure me / I disagree.“ Dann ein Schnitt. Der Refrain bricht los, eingeleitet von sägenden Metal-Gitarren – und Poppy springt wie ein blondierter Derwisch über den Tisch.

Poppy - I Disagree (Official Music Video)

Diese beschriebene Szene stammt aus dem Video zum Titelsong des neuen Albums „I Disagree“. Und obwohl das Klischee der bösen Plattenfirma recht oft bemüht wird, passt es mit Blick auf Poppys bisherige Karriere – wenn man ihrer Darstellung folgt. Dem NME erzählte sie Ende letzten Jahres in einem ihrer sehr seltenen Interviews, dass ihr erster Major-Deal, den sie aufgrund ihres YouTube-Channels „thatPoppy“ bekommen hatte, „richtig scheiße“ gewesen sei und man sich zudem noch über ihre selbst produzierten Kunst-Videos gestritten hatte. Über das Label, das darauf folgte, sagte sie im gleichen Interview: „Jetzt kann ich es ja erzählen: Es war nicht wirklich ein funktionierendes Label, eher ein Steuer-Abschreibungsprojekt. Eine Kontinuität gab es nicht wirklich.“

#FreePoppy

Was eine interessante Aussage ist, wenn man weiß, dass sowohl ihr erstes Album „Poppy.Computer“ (2017) und der Nachfolger „Am I A Girl“ (2018) auf I Am Poppy Records rauskam, das an Diplos Label Mad Decent angeschlossen war. „I Disagree“ erscheint nun wiederum beim Prog- und Metal-Label Sumerian Records – und das passt ausgesprochen gut, wenn man sich ihr neues Album so anhört. Denn darauf lebt sie zum ersten Mal auf Langstrecke ihre Liebe zu extremen Klängen aus – und verpasst ihrem sonst eher auf Weiß und Rosa setzenden Outfit ein grelles Fetisch-trifft-Kawaai-Update.

Überhaupt muss man oft an das Wort „Update“ denken, wenn man sich mit Poppys Karriere beschäftigt. Ihre Herkunftsgeschichte, die man als Graphic Novel kaufen kann (und die sogar einen eigenen Ambient-Soundtrack dabei hat), will uns erzählen, dass sie eine Art Cyborg ist, der seine ersten Jahre eingesperrt in einer Militärstation verbrachte. Ihre Persönlichkeit entwickelte Poppy, weil sie einen Weg fand, von ihren Bewachern unbemerkt ins Internet zu gelangen, wo sie dann mit künstlerischen Videos aus ihrer „Zelle“ ihre ersten Fans und Freunde sammelte. Die Wahrheit ist weniger spektakulär: Geboren wurde sie Mitte der Neunziger als Moriah Rose Pereira in der Nähe von Nashville. Im NME-Interview erzählte Pereira, man habe sie in der Schule oft gehänselt, weil sie „dünn und still“ gewesen sei. Sie habe keine einzige gute Erinnerung an ihre Jugend – aber immer gewusst, dass sie Musikerin werden wollte. Nun ja, sie wurde mehr als das. Sie sagte auch: „Das Internet, nicht die Schule, hat mich unterrichtet.“ Eine deutliche Parallele zu ihrem YouTube-Character Poppy und dessen Biografie.

YouTube-Kunstfigur trifft Marilyn Manson

Mit 18 zog Pereira nach Los Angeles, wo sie nach einigen Monaten ihren Kreativpartner Titanic Sinclair traf, mit dem sie ihre ersten erfolgreichen Videos, ihren Look und die ersten Songs realisierte. Sinclair sagte später, seine erste Begegnung mit Pereira habe sich angefühlt, als hätte er David Bowie getroffen. Sinclair selbst ist eine bisweilen umstrittene Person. Der Künstler und Regisseur wurde oft als Strippenzieher oder gar Sklavenhalter bezeichnet. Allerdings hatte Sinclair, der eigentlich Corey Michael Mixter heißt, zuvor mit der Künstlerin Mars Argo und deren „Computer Shows“ auf dem YouTube-Channel grocerybagdottv“ ein recht ähnliches Projekt. Und Mars Argo beschuldigte Sinclair später vor Gericht, sie emotional bedrängt und ausgenutzt zu haben. Das Verfahren wurde erst 2019 durch einen Vergleich, bei dem jedoch kein Geld floss, beigelegt.

Das alles kommentierte Poppy beim NME so: „Es ist lustig, dass alle denken, ich sei nur das Werkzeug von Titanic und er sei der Böse. Das war genau die Storyline, die wir uns für das erste Album ausgedacht hatten. Die Leute, würden sich wundern, wie kollaborativ wir sind. Eigentlich sind die Anteile mindestens fünfzig fünfzig.“

Es ist schon fast ein Luxus, dass man inzwischen Aussagen wie diese von Poppy zitieren kann. Zuvor war Poppy nämlich bei jedem Auftritt „in character“ – und ließ sich auch nicht aus der Rolle und Ruhe bringen, wenn sich hochkarätige US-Moderatoren wie Howard Stern an der vermeintlich naiven Cyborg-Blondine die Zähne ausbissen. Keine doofe Entscheidung, denn ihre Fans – die sich der „Church of Poppy“ zugehörig fühlen – feiern die Poppy-Videos fast mehr als ihre Musikclips. Ihr erfolgreichstes steht gerade bei über 24 Millionen Views. Die Handlung: Poppy mit weißer Bluse vor weißer Wand, wie sie zehn Minuten lang immer wieder sagt: „I am Poppy.“ In einem Video aus dem letzten September wiederum steht sie in einem schwarzen Latexanzug im einem weißen Studio und kichert. Spielzeit: 27 Minuten:

So weird, arty und unterhaltsam das alles ist, sollte man an dieser Stelle ruhig noch mal betonen, dass man sich wirklich auf die Shows im März und das neue Album freuen darf. Denn – und das war schon immer so – Poppys Musik ist bunt, grell, unberechenbar und wahnsinnig eigen, auch wenn man ihre Liebe zu Metal wie jenem von Marilyn Manson (der bekennender Poppy-Fan ist), zu Pop im Stile von Grimes (mit der sie sich persönlich zerstritten hat nach dem gemeinsamen Song „Play Destroy“) und zu japanischem Girl-Pop deutlich raushört. Das alles ist so gut, das würde auch ohne die wundersame Internetlegenden-Welt von Poppy funktionieren. Freuen wir uns also drüber, dass wir uns von beidem verwirren und begeistern lassen können.

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